Donnerstag, 1. Juni 2017

Kapitel 23 – Samagaon (3530) – Samdo (3860) – tibetische Grenze (4900)

Die Bedingungen für unseren weiteren Weg nach Samdo erscheinen an diesem Tag nahezu ideal. Blauer Himmel und klare Bergsicht versetzen in freudige Aufbruchsstimmung. Vor uns liegt eine etwa dreistündige Wanderung, die uns weiter über das karge Hochplateau und zum Schluss ein Stück weiter aufwärts zu dem kleinen Weiler Samdo. Diese Siedlung, die nur während der Trekking-Saison bewohnt ist, besteht in erster Linie aus Unterkünften und kleinen Ladengeschäften für Touristen.

Auf dem Weg nach Samdo.
Obwohl die heutige Wanderung an sich kaum eine große Herausforderung darstellt, wird sie für mich zu einer der härtesten auf unserer bisherigen Tour. Gestern Abend habe ich mir in unserer Unterkunft einen Fried-Rice mit Ei zum Dinner bestellt. Dass das keine meiner besten Ideen war, bemerke ich bereits ein paar Minuten später, als mein Mageninhalt wie eine Waschmaschinenladung zu rotieren beginnt. Die folgende Nacht darf ich mich dann schlaflos und Magen- und Darmkrämpfen beglückt in meinem Schlafsack wälzen. In regelmäßigen Abständen darf ich mich mit Stirnlampe nach draußen begeben, über den eiskalten Hof schleichen und die Toilette aufsuchen. Sowohl zum Vorder- als auch zum Hinterausgang wird sich reichlich entleert. Als ich dann am nächsten Morgen gegen 5 Uhr aus meinem Bett aufstehe, fühle ich mich ungefähr wie Stalingrad 1942.

Ausflug zur tibetischen Grenze.
Als ich den Verantwortlichen der Unterkunft höflich bitte, das verdorbene Eiergericht nicht auf die Rechnung zu schreiben, schaut er mich an, als wäre ich nicht da und schüttelt teilnahmslos mit dem Kopf. Ich möchte an dieser Stelle einen freundlichen Ratschlag loswerden: Solltet ihr jemals nach Samagaon kommen, meidet die große Lodge mit der violetten Wandfarbe und verzichtet auf Eier und andere leicht verderbliche Lebensmittel. In dieser Höhe verfügen die Leute meist nicht über adäquate Kühlmöglichkeiten.

Wasteland.
Der Marsch fühlt sich dementsprechend wie eine Strafexpedition an. Übernächtigt, geschwächt durch den permanenten Energieverlust und begleitet von ständigen Darmkrämpfen schleppe ich mich wie eine Figur aus einem Zombie-Horrorfilm über die Bergpfade. Mehr als einmal muss ich dem Druck nachgeben, meinen Rucksack abwerfen, das Klopapier hervorholen und mir einen einsamen Busch suchen. Obwohl ich einen großen Teil meiner Konzentration darauf verwenden muss, mir während des Laufens nicht in die Hosen zu machen, genießt ein anderer Teil von mir die malerischen Ausblicke auf die umliegende Bergkulisse und die stille Kargheit der Landschaft. Dennoch bin ich nicht wenig erleichtert, als wir die Unterkunft in Samdo erreichen und ich mich auf das Krankenlager begeben kann. Dort döse ich delirierend die nächsten Stunden vor mich hin, trinke Elektrolyte-Lösung und Pfefferminztee und renne alle 20 Minuten auf die zugige Toilette, die durch einen undichten Wasserhahn permanent überschwemmt ist. Irgendwann rinnt nur noch Flüssigkeit durch meinen Verdauungstrakt und das Gift scheint nach und nach aus meinem Körper gespült zu werden. Eine eigenartige innere Klarheit und Präsenz tritt ein, die vielleicht der Höhe, vielleicht der Leere in Magen und Darm oder vielleicht meiner Einbildung geschuldet ist. Jedenfalls fühle ich in diesen Momenten eine tiefe Gelassenheit und Distanz zu meiner Person und meinen Gedanken, so als würde ich einen absurden Film anschauen. Zum Abendessen rumort es zwar noch immer im Darm, allerdings fühle ich wieder Lust zu essen. Ich bestelle mir aus lauter Übermut eine Knoblauch-Suppe. Wer sich gerade denkt: 'so ein Trottel', hat unbestritten Recht. Denn die folgende Nacht erwarten mich wieder einige außerplanmäßige Sitzungen.

Blue Sheep im Hintergrund.
Der nächste Tag dient dann zur Akklimatisierung und bietet Raum für einen weiteren Ausflug, der uns dieses Mal hoch hinauf bis an die tibetische Grenze führen soll. Das Wetter wirkt einladend an diesem Morgen und auch mein Verdauungstrakt hat sich bis zu einem erträglichen Maß hin beruhigt, so dass ich beschließe, mich Marvin und Ishuwar auf dem fordernden Weg zur Grenze anzuschließen. Obwohl der Rucksack für diesen Tagesmarsch deutlich weniger wiegt als sonst muss ich doch bald feststellen, dass ich mir zu viel vorgenommen habe. Mein ausgelaugter Körper ist den Strapazen einer über siebenstündigen Wanderung bis rauf auf fast 5000 Metern nicht gewachsen. Mit meinen Gefährten, die zügig voran-preschen, kann ich in keinster Weise Schritt halten. So trete ich also den vorzeitigen Rückzug an. Ein einprägsames Erlebnis ist dieser Marsch aber trotzdem. Die Landschaft ist unwirtlich, zerklüftet und von Felsen und Geröll bedeckt. Ein kleiner Fluss schlängelt sich hindurch. Die Farben Braun, Grau und Schwarz dominieren, gelegentlich dekoriert mit weißen Tupfern. Unterwegs begegnen mir neben den allgegenwärtigen Yaks auch eine Art von Murmeltier und eine seltene Form von Wildtieren (genannt 'Blue Sheep' wegen ihrer blauen Zungen), die wie eine Mischung aus Reh und Bergziege aussieht.

Ein murmelndes Tier.
Während ich also kapitulieren musste, haben es Marvin und Ishwuar tatsächlich bis zur tibetischen Grenze und heil wieder nach unten geschafft. Eine starke Leistung, die auf jeden Fall Respekt verdient. Ob die Spuren, die Marvin dort oben entdeckt hat, nun tatsächlich vom legendären Schneeleoparden oder doch nur von einem großen Hund stammen, konnte nicht abschließend geklärt werden.

Marvin und Ishwuar an der Grenze. (by Marvin Maurer)

Schneeleopard, Yeti oder Waldi? (by Marvin Maurer)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen