Donnerstag, 1. Juni 2017

Kapitel 25 – Dharmasala (4460) – Larke-La-Pass (5106) – Bhimtang (3610)

Die Überquerung des Larke-Passes ist in mehrfacher Hinsicht ein herausragendes Ereignis auf unserer Trekking-Tour rund um das Manaslu-Massiv. Zum Einen erreichen wir mit 5106 Metern den höchsten Punkt. Wir laufen teilweise nachts. Mit 8-10 Stunden sind wir an diesem Tag mit am längsten unterwegs. Außerdem sind die Bedingungen, was Höhe und Witterung anbelangt, im Vergleich zu den Etappen zuvor deutlich extremer. Es erwartet uns ein strammer Aufstieg um etwa 600 Höhenmeter nach oben und direkt danach ein sehr langer kräftezehrender Abstieg um ca. 1500 Höhenmeter. Für mich hält der Tag noch eine weitere Herausforderung bereit.

Sonnenaufgang.
Ich erwache in der Nacht früher als beabsichtigt und spüre meinen Darm. Er teilt mir mit Gluckern, Brodeln und einem starken Gefühl von Aufgeblähtheit mit, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Noch am Tag zuvor war ich enorm erleichtert, dass ich nach unserer Ankunft in Dharmasala keine Verdauungsbeschwerden mehr gefühlt habe und der 'Worst-Case' (mit Durchfall über den Pass) vermeintlich nicht eintreten würde. Nun wurde ich offenbar eines Besseren belehrt. Dennoch versuche ich gelassen zu bleiben und beobachte für einige Minuten die Empfindungen in meinem Unterleib, bevor ich mich aufsetze, meine Stirnlampe einschalte, die bereits am Vorabend zurecht gelegten Sachen verstaue und mich samt Rucksack und Wanderstöcken aus dem Zelt schäle. Die Nacht ist ruhig, sternenklar und eiskalt. Ein schneidender Wind bläst mir ins Gesicht. Der Schnee liegt inzwischen fast auf der Höhe meiner Knie. Die anderen sind bereits beim Frühstück. Schon auf dem Weg zur Hauptbaracke fühle ich einen alarmierenden Darmkrampf. Mein Körper will mir mitteilen, dass etwas dringend raus muss. In der Hauptbaracke angekommen lege ich schnellstmöglich meinen Rucksack ab und krame die Klopapierrolle hervor. Gerade so schaffe ich es noch mich auf die eisig-finstere Toilette zu flüchten.

Immer nach oben.
Leicht gequält.
Beim Frühstück bekomme ich kaum einen Schluck Haferschleim hinunter. Ich lasse ihn zur Hälfte stehen. Seltsamerweise kommt mir die Option, es mit der Überquerung heute Nacht bleiben zu lassen, gar nicht in den Sinn. Alle sind fertig zum Aufbruch. Marvin läuft bereits mit Dipar voraus. Ishwuar wartet noch auf mich. Ich suche die Tabletten, die den Durchfall vorübergehend stoppen sollen, kann sie aber nicht auftreiben. Bevor wir losmarschieren muss ich mich noch einmal entleeren. Mein Energielevel ist irgendwo sehr tief unterirdisch und das über Nacht halb gefrorene Trinkwasser reizt zusätzlich meinen Magen. Kurzum, ein wundervoller Morgen für eine Pass-Überquerung!

Die weiße Felswüste.
Noch in der Dunkelheit begeben wir uns auf den etwa vierstündigen Aufstieg zum Larke-La-Pass. Gute 600 Höhenmeter sind zu bewältigen, wobei es mal flach und mal steil bergauf geht, unterbrochen von einigen relativ-ebenen Abschnitten. Das Schneetreiben vom gestrigen Tag hat sich zwar gelegt, allerdings liegt die Landschaft nun unter einer dichten, weißen Decke begraben. Da schon einige Wanderer vor uns aufgebrochen sind und die Route eröffnet haben, können wir ihrer Schneise durch den frischen Schnee folgen, was die Wegfindung erheblich vereinfacht. Die Sterne leuchten am Himmel, in der Ferne lassen sich schon subtile Anzeichen des jungen Morgens erahnen, weiß und stumm ragen die Bergmassive um uns herum in die Höhe und ich muss mich schwer konzentrieren, mir nicht in die Hose zu machen. Die kommenden Stunden werden zu einer großen körperlichen und geistigen Herausforderung für mich. Mehrmals muss ich auf dem Weg nach oben, dem Druck in meinen Eingeweiden nachgeben, die Klopapierrolle hervorholen und durch den Schnee waten, um mir ein stilles Plätzchen abseits des Pfades zu suchen. Minusgrade, schneidender Wind, unebenes Terrain und der Umstand, dass ich vier Lagen Kleidung am Unterleib trage, machen die Prozedur nicht eben zu einer Wohltat. 

Oben.
Jede Entleerung raubt dem Körper wertvolle Energie, der benötigt, um in diese Höhen aufzusteigen, für die er eigentlich nicht geschaffen ist. Die Atemluft wird dünner und dünner, der Rucksack gefühlt immer schwerer und der Wind nimmt an Intensität zu. Das Licht der aufgehenden Sonne spendet etwas Wärme und Energie und taucht die umliegenden Gipfel in ein zart-rosafarbenes Licht. Allerdings fügt der Sonnenaufgang auch eine weitere Härte hinzu. In dieser Höhe knallt die Sonne wie durch ein Brennglas auf uns Wanderer hinunter und ihre Strahlen werden von der kristallenen Schneeoberfläche millionenfach reflektiert. Der Anblick ist derartig stechend, dass man ihn ohne Sonnenbrille nicht erträgt. Genauso verbrennt die Haut innerhalb von Minuten, wenn man sie schutzlos den Sonnenstrahlen aussetzt. Man läuft wie durch eine weiße Felswüste, die schmerzhaft schöne Panoramen bietet. Es fühlt sich ein bisschen so an, als wäre man als Raumfahrer auf einem fremden, lebensfeindlichen Planeten gestrandet.

Der Ritter der Klopapierrolle.
Der Aufstieg zieht sich lange hin und je näher wir unserem vorläufigen Ziel kommen, desto langsamer werde ich. Jeder Schritt wird zu einem kleinen Kraftakt und gefühlt alle 50 Meter bleibe ich stehen, unterdrücke meine Darmkrämpfe und mache einige tiefe Atemzüge. Während ich nach außen hin, nur sehr wenige, verbale Beschwerden von mir gebe, ertönt in meinem Bewusstsein ein ganzer Chor aus sich beklagenden Gedanken. Besonders häufig richten sie sich gegen die Verantwortlichen für das 'Egg-Fried-Poison' in Samdo, denen biblische Vergeltung an den Hals gewünscht wird. Andererseits bin ich mir in jedem Augenblick bewusst, dass auch dieser Zustand sich ändern wird und ich eines Tages herzhaft über diese Komplikation lachen werde, die meinem Trekking-Erlebnis nochmal eine zusätzliche Würze verliehen hat. Ishwuar indes wartet geduldig auf mein Vorwärtskommen. Ihm selbst scheint der Marsch nicht allzu viel abzuverlangen.

Mit Ishwuar.
Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt schließlich das bunt-beflaggte Ziel in Sicht, was einen weiteren Motivationsschub in mir auslöst. Die letzten Meter werden im Zeitlupen-Tempo bewältigt und unter massivem Einsatz der Trekking-Stöcke zur Entlastung der Beine. Das Erste, was die meisten anderen tun, die hier oben ankommen, ist für zahllose Fotos vor der offiziellen Höhenmarkierung posieren. Das erste, was ich hier oben auf 5106 Metern als Erstes tue, ist (man verzeihe mir die Ausdrucksweise: Scheißen gehen.

Schwere Lasten beim Abstieg.
Danach geht es mir auch auf wundersame Weise wieder besser. Die Turbulenzen nehmen ab, ich kann ein paar Kekse und Trockenfrüchte zu mir nehmen, posiere für ein paar Fotos, unterhalte mich mit Magda, Thomas und Bal, die ein paar Minuten vorher angekommen sind. Marvin und Dipar sind in ihrem Feuereifer bereits weiter marschiert. Ishwuar zündet sich vollkommen unbeeindruckt auf über 5000 Metern Höhe eine Zigarette an und inhaliert genüsslich den Rauch, wo andere kaum richtig atmen können.

Abstieg nach Bhimtang.
Lange Zeit können wir am Larke-La-Pass nicht verweilen. Wenn man aufhört sich zu bewegen, wird einem sehr schnell kalt, und so sind wir gezwungen, in Bälde den Abstieg nach Bhimtang in Angriff zu nehmen. Wer selbst bereits des Öfteren in den Bergen wandern war, weiß, dass solche Abstiege oft anstrengender und nervenzehrender sind als die Aufstiege. In unserem Fall ist der steile Pfad nach unten von einer eingestampften und rutschigen Schneeschicht bedeckt, auf der man sehr leicht die Balance verliert (zumindest als Europäer, die Nepalesen sind in dieser Hinsicht vergleichbar mit Bergziegen). Ebenso langsam wie es hinauf ging, geht es nun auch wieder hinunter. Die 1500 Höhenmeter abwärts bis ins Tal gestalten sich außerordentlich zäh. Trotz standhafter Versuche, die Konzentration zu wahren, lande ich mehr als einmal im Schnee und verbiege dabei einen meiner Wanderstöcke. Nach gut 10 Stunden Wanderschaft erreichen wir Bhimtang am Nachmittag, kurz bevor nasskaltes Wetter einsetzt und es anfängt zu regnen. Auch an Marvin ist der Marsch nicht spurlos vorübergegangen. Während des Abstieges hat er sich eine leichte Zerrung am Knie eingefangen. Dennoch haben wir es alle zusammen, halbwegs heil über den Pass geschafft und dürfen uns nun ein bisschen freuen. Wir sind am Leben, können noch jammern und unseren Enkeln voller Stolz von unseren glorreichen Verdauungsbeschwerden berichten.

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