Freitag, 5. Mai 2017

Kapitel 16 - Chekamparo (3010) - Nyle (3200)

Mein Gefühl für Wochentage und Kalendertage ist fast vollständig verschwunden. Ich glaube, dass das kein schlechtes Zeichen ist. Wie mir mitgeteilt wurde, ist heute der Ostersonntag 2017. Ich befinde mich auf über 3000 Metern Höhe im Tsum-Valley in Nepal. Hier oben hat Ostern wenig Bedeutung. Hier oben hat auch meine Identität als D. A. wenig Bedeutung. Die Elemente, aus denen diese Identität konstruiert ist, scheinen keine Gültigkeit zu besitzen. Hier oben ist meine äußere Identität nur die eines Wanderers in den Bergen. Ich habe keinen Zugang zu Medien oder zum Internet. Ich habe keine Möglichkeit zu meinem Leben in Deutschland in Kontakt zu treten. Stattdessen verbringe ich den Nachmittag, in Nyle am Fluss zu sitzen und seinem Rauschen zuzuhören, das uns den ganzen Weg bis hier herauf begleitet hat. In diesem Moment habe ich das Gefühl, gar nicht mehr zu brauchen.

Die Hochebene.

Heilige Zeichen säumen den Weg.
Einen Eindruck vom entbehrungsreichen Leben in diesen Höhen erhalten wir auf unserer heutigen Wanderung. Die Sonne strahlt wie durch ein Brennglas vom Himmel und ein scharfer Wind bläst einem den Staub in die Augen. Inzwischen macht sich die Höhe auch körperlich bemerkbar. Obwohl wir heute nur eine vergleichsweise flache Hochebene passieren und nur etwa 200 Höhenmeter zurücklegen, erscheint mir das Gehen immer mühsamer. Körper und Rucksack fühlen sich schwerer an als zuvor und auch das Atmen wird anstrengender. 

Tiere belästigen.

Badefreuden.

Dafür werden die Strapazen auch heute wieder mit herrlichen Aussichten belohnt. Die Throne der Götter erscheinen noch unmittelbarer und präsenter als am Tag zuvor. Das Weiß der Gipfel sticht geradezu in die Augen und ganz oben kann man gelegentlich Schneeverwehungen beobachten. Über 3000 Metern ist die Landschaft geprägt von dürren Gräsern und Gebüsch, wo die Einheimischen ihre Rinder weiden lassen. Bäume wachsen nur noch sporadisch. Einen Kontrast dazu bilden die jungen, grünen Getreidefelder, die im Umkreis der Dörfer angelegt wurden und durch niedrige Steinmauern voneinander abgetrennt sind. Besonders atmossphärisch sind die vielen steinernen Stupas mit den bunten Gebetsfahnen, die fröhlich im Wind flattern. 

Stupa vor Nyle.
Auf halbem Weg machen wir noch einen kleinen Abstecher zu einem Tempel, der einem buddhistischen Einsiedlermönch geweiht ist. Dieser Mönch namens Milarepa hat hier in einer Höhle einen großen Teil seines Lebens meditierend zugebracht, nachdem er (laut der Legende) vor einer Bestrafung durch seinen Lehrer geflohen war. Durch das falsche Rezitieren eines Mantras soll Milarepa eine örtliche Dürreperiode noch verschlimmert haben, die er eigentlich beenden wollte. Zur Strafe sollte er alleine ein Kloster bauen, worauf er irgendwann wohl keine Lust mehr hatte.

Die Drei von der Tankstelle.
Rinder überall.
Die Bedingungen in Nyle sind noch ein bisschen einfacher als in Chekamparo. Die Kulisse ist rustikal. Für die Häuser kamen offenbar die Rohstoffe Holz und Stein in ihrer ursprünglichsten Form zum Einsatz. Schmucklose Mauern aus Naturstein und Dächer aus Schiefer. Die Innenräume sind dunkel und verräuchert, Türen und Decken sehr niedrig. Man kocht über Holzfeuern. In ummauerten Gehegen werden Kühe und Yaks gehalten. Wir könnten uns im Europa des 19. Jahrhunderts befinden. Nur dass die Leute damals bestimmt keine Smartphones besaßen, was hier im Tsum-Valley des 21. Jahrhunderts schon mit zur Standard-Ausstattung gehört, obwohl es wenig bis gar keinen Empfang gibt.         

Nyle von oben.


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